„Lernen Neu Denken“ auf dem Lernbauernhof Schulte-Tigges – wöchentliche Kooperationen mit Grundschulen aus dem Dortmunder Norden

Kinder, die durch Tierbegegnungen ihre Angst vor Hühnern verlieren, gemeinsam beim Bau einer Murmelbahn in der Werkstatt Teamwork erleben sowie motorische Fähigkeiten weiterentwickeln können und im Herbst am Gemüseacker die selbstgepflanzten Kartoffeln ernten und damit einfache systemische Zusammenhänge ganz nebenbei kennenlernen – all das ist bei uns auf dem Lernbauernhof Schulte-Tigges für drei Grundschulklassen der Nordmarkt-Grundschule und der Libellenschule aus dem Dortmunder Norden dank des Projekts „Lernen Neu Denken“ jede Woche aufs Neue möglich.

Angefangen hatte alles damit, dass den Lehrkräften in Schulen aufgefallen war, dass vor allem aufgrund der Corona-bedingten Schulschließungen, ihre Schüler*innen nicht mehr „normal“ beschulbar waren. Der Lockdown, Distanzunterricht, die fehlenden unmittelbare Verbindungen zu den Schülerinnen und Schülern führten nach dem Schulstart dann dazu, dass die Schüler*innen zum Teil abgewandt und apathisch waren, sich kaum konzentrieren konnten und motorisch, sozial und sprachlich stark zurückgefallen waren. Vor allem bei jüngeren Kindern aus der strukturell benachteiligten Dortmunder Nordstadt, deren Schulen den niedrigsten Sozialindex NRWs aufweisen, wurde deutlich: Es braucht andere Wege der Beschulung.  Das Projekt „Lernen Neu Denken wurde von engagierten Rektorinnen ausgewählter Schulen in Kooperation mit dem regionalen Bildungsbüro und der Stadtteilschule e.V.  auf den Weg gebracht.

Neben intensiver Lernzeit in Kleingruppen im gewohnten Schulsetting, die eine bessere Erreichbarkeit der Kinder und ein schnelleres und besseres Aufholen des Lernrückstandes ermöglichen, liegt der Ansatz darin, die Kinder auch außerschulisch zu fördern. Es sollen Naturerfahrungen, Bewegung und soziales Miteinander ermöglicht werden. Außerdem sind eine alltägliche Sprachförderung und die Schaffung intensiver, individueller und ganzheitlicher Lernmöglichkeiten in vielfältigen Bereichen geplant.

Konkret bedeutet dies, dass die Klassen der Jahrgänge eins bis drei an jeweils zwei Tagen in der Woche aufgeteilt werden. Die halbe Klasse verbleibt in der Schule und kann so intensiv beim Lernen begleitet werden. Die andere Hälfte macht sich auf den Weg zu einem außerschulischen Lernort. Das kann der Wald, eine Jugendfreizeitstätte oder eben unser Lernbauernhof sein. Bei diesen Angeboten werden die Kinder von zwei pädagogisch geschulten Personen begleitet, die bereits den Weg zum Lernort mit den Kindern antreten und jede Woche dabei sind. Sie stellen wichtige Bezugspersonen für die Kinder dar und begleiten sie im Optimalfall über die gesamte Projektlaufzeit. So erhält jedes Kind einmal die Woche individuelle Förderung in der Schule und einmal die Woche die Möglichkeit zum außerschulischen Lernen. Die teilnehmenden Schulleitungen beschreiben das Projekt als das Erste, was Schule nachhaltig positiv verändert – auf ganz vielen Ebenen.

Auch für uns auf dem Hof ist „Lernen Neu Denken“ ein besonderes Projekt – ermöglicht es doch die intensive, wöchentliche Begleitung von Schülerinnen und Schülern in einer kleinen Gruppe über ein ganzes Schuljahr im engen Austausch mit der Schule. Hierdurch ist ein sehr intensiver und kontinuierlicher, nachhaltiger Lernprozess möglich, und die Stärken außerschulischen Lernens in Kombination mit der Institution Schule können in einem größeren Ausmaß zur Geltung kommen. Durch die Orientierung am schulinternen Curriculum und den engen Austausch mit den Lehrkräften haben wir jeweils einen Überblick über vorhandenes (oder nicht vorhandenes) Vorwissen.  Die wöchentlichen Termine mit halber Klassenstärke geben uns außerdem die Möglichkeit, ausgewählte Inhalte handlungs- und problemlösungsorientiert zu vertiefen und so ein Thema hinsichtlich mehrerer Dimensionen zu beleuchten, Zusammenhänge aufzuzeigen und verschiedene Perspektiven einzunehmen.

So wird zum Beispiel das Thema Apfel an drei Terminen im Schuljahr unter verschiedenen Gesichtspunkten aufgegriffen: vom Anbau weltweit auf Plantagen oder Streuobstwiesen, den jeweiligen ökologischen und ökonomischen Auswirkungen, Konflikten zwischen Handlungswunsch und Realität und nicht zuletzt der Erstellung des eigenen Apfelsafts von gesammelten Äpfeln auf der hofeigenen Streuobstwiese. Bildung für nachhaltige Entwicklung wird hier praktisch immer wieder aufgegriffen und anschaulich umgesetzt.

Die Schüler*innen kommen ein ganzes Schuljahr zu uns auf den Hof, nachdem sie bereits in Klasse 1 ein Jahr in einem Garten und in Klasse 2 ein Jahr im Wald waren. So kann man bereits vorhandenes Wissen vertiefen und auch innerhalb des Jahres rote Fäden in die Planung mit einfließen lassen und so systemisches Denken und transformatives Lernen fördern. Neben den inhaltlichen Schwerpunkten, die in Abstimmung mit den Lehrkräften des jeweiligen Jahrgangs gelegt werden, ist die Kompetenzförderung ein weiteres Kernelement des Angebots mit einem Fokus auf die Förderung von Sozial- und Selbstkompetenzen und die motorische Entwicklung.

Durch die regelmäßigen Besuche erfahren die Kinder den Lernbauernhof als einen Ort, auf dem sie sich nach und nach immer besser auskennen und den sie mitgestalten können. So hat sich ihre konkrete Lebenswelt ein Stück weit vergrößert, da gerade Kindern aus dem Dortmunder Norden oft die Möglichkeit fehlt, Erfahrungen außerhalb ihres Stadtbezirkes zu machen. Sie erfahren, was es bedeutet Verantwortung zu übernehmen, sei es für die Hoftiere und deren Versorgung oder auch füreinander in der Gruppe. Denn manche Aufgaben schafft man einfach nur zusammen, der Heuballen lässt sich nur schwerlich allein von der Deele bis in die Heubox tragen. Die „Früchte“ ihrer Kooperation können sie somit direkt sehen, manchmal können sie sie sogar mit in die Schule nehmen. Die gemeinsam gebaute Murmelbahn aus Holzlatten, Fahrradschläuchen und alten Blumentöpfen funktioniert nicht nur einwandfrei, sie können sie ebenso mit in die Schule nehmen und ihren Klassenkamerad*innen zeigen. Sie erfahren durch die Partizipation und den Gestaltungsfreiraum am Hof Selbstwirksamkeit und können stolz darauf sein, was sie geschafft haben. Nach jedem Kurs wird mit den Kindern gemeinsam reflektiert: Was hat heute gut funktioniert, was könnte besser laufen? Was hat ihnen Spaß gemacht und worauf können sie heute besonders stolz sein? Natürlich geben auch die pädagogischen Fachkräfte stets eine wertschätzende Rückmeldung an die Kinder zurück.

Außerdem werden Fragen aufgegriffen, die sich für die jüngere Generation immer dringlicher stellen: Wie kann unsere Zukunft im Hinblick auf die Klimakrise aussehen? So wird der Zusammenhang von Klima und Anbaubedingungen und Ernte direkt spürbar, wenn die Kartoffeln über Wochen noch nicht gelegt werden können, da es einfach zu nass ist. Hierbei werden die Lernenden dabei unterstützt, kreative Lösungen für große gesellschaftliche Problemstellungen zu finden und sich nicht entmutigen zu lassen.

Bereits nach dem ersten Jahr, also dem ersten Durchgang berichteten die beteiligten Erwachsenen von einem deutlich veränderten Verhalten der Kinder. Zum einen führte die Aufteilung der Gruppen zu höherer Zufriedenheit und erkennbaren Lernfortschritten, zum anderen ließen sich die Kinder wieder motivieren, waren ausgeglichener und hatten weniger Konflikte. Die begleitenden Teamer*innen berichteten von einem intensiven Beziehungsaufbau und die Kinder selbst freuten sich schon allein darüber, mehr draußen sein zu können aber auch über die positiven Rückmeldungen der Fachkräfte auf dem Hof, die auf den ersten Blick nichts mit der Schule zu tun hatten: das fleißige Kartoffelernten, der vorsichtige und empathische Umgang mit den Tieren oder die Ermutigung der ängstlichen Mitschülerin, die Ziege zu streicheln.

Die Umsetzung eines solch umfassenden Projekts ist aufwändig und teuer. Mittlerweile erhalten die Schulen operative Unterstützung durch den Fachbereich Schule der Stadt Dortmund, das Jugendamt, den Verein zur Förderung innovativer Schulentwicklungen in Dortmund (schul.inn.do e.V.) und den eingetragenen Verein Stadtteil-Schule Dortmund e.V.. Außerdem sichert die Dortmund-Stiftung derzeit durch eine hohe Spendensumme die Arbeit für ein weiteres Schuljahr. Auch die Stadt Dortmund stellt für das Schuljahr 2023/2024 weitere Mittel zur Verfügung. Für eine dauerhafte Finanzierung müssen unter anderem noch Fragen in Bezug auf Wirksamkeit geklärt werden. Eine wissenschaftliche Begleitforschung durch die Fachhochschule Dortmund, die TU Dortmund, und die Wübben Stiftung soll diesen Fragen auf den Grund gehen. Sie begleiten und evaluieren derzeit das Projekt hinsichtlich seines Outcomes.

In Zeiten zunehmender gesellschaftlich verankerter Ungleichheiten, dem nicht gerechten Zugang zu Bildung und den damit einhergehenden Chancenungleichheiten wird immer deutlicher, dass Lernen – ja das Bildung anders gedacht werden muss.

In der wissenschaftlichen Begleitung und dem starken Engagement der beteiligten Akteure liegt nun die Chance diese Art der Bildung allen zukommen zu lassen, die es benötigen.